Arbeiten Publikation Aktuell CV Texte Kontakt Impressum
Startseite Texte

Texte




Ich und die Welt

Gedanken zu der Ausstellung paradoxon
von phil. Martin Franken

Ein Turm und eine Weltkarte, das sind die Gestaltungselemente dieses Raumes. Das Ganze wirkt still und feierlich, fast sakral, wie der Ort eines merkwürdigen Rituals. Im Turm findet der Raum seine Zentrierung. Er ist mit dem Boden verwurzelt, fest und geometrisch. Er verjüngt sich nach oben, spreizt sich dann aber wieder auf zu einem achteckigen, fensterartigen Gebilde, das wie eine Krone auf ihm sitzt. Obwohl einfach und schlicht, vermittelt er doch Würde, Erhabenheit und Konzentration.

Die Weltkarte selbst und als ganze ist nicht zu sehen. Sie befindet sich zergliedert und mehrfach gespiegelt auf verschiedenen Stoffobjekten an den Wänden. Ferner gibt es eine Projektion solcher gespiegelten Weltstücke auf eine Wand, und eine solche Gestalt liegt auch wie ein massiges Urtier auf dem Boden.

Das Urtier auf dem Boden scheint sich vor dem Turm zu verneigen. Es ist nichts als ein massiger Körper, ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Es ist dem Boden verhaftet und wirkt fremd. Von einem solchen Wesen hat sich der Mensch weit entfernt.

Ganz im Gegensatz dazu erhebt sich der Turm stolz in die Höhe. Von ihm aus geht der Blick in alle Richtungen. Er gibt die Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, das Ganze in Augenschein zu nehmen, den Blick in die unendliche Ferne schweifen zu lassen. Von hier aus ist es auch möglich, Gefahren frühzeitig zu erkennen. Zugleich aber und im Unterschied dazu eröffnet der Turm die Möglichkeit, ganz bei sich anzukommen, bei sich zu bleiben, sich einzuschließen. Er gewährt Schutz und Sicherheit. Man könnte sagen: Hier ist das Zuhause, das Zuhause des Ich.

Die Welt da draußen an den Wänden dagegen ist zergliedert und bietet nicht den Anblick einer Einheit. Sie erfährt eine dreifache Gestaltung und Entfremdung durch ihre Präsentation auf wertvollen Tüchern, durch Fragmentierung und durch mehrfache Spiegelung. Solche Tücher werden auch in sakralen Ritualen benutzt, um Wertvolles, ja Heiliges darzustellen oder zu verhüllen. So wird uns die Welt wie ein Geschenk dargebracht, wie etwas, das wertvoll und von uns zu hüten ist. Zugleich erscheint die Welt durch Fragmentierung und Spiegelung entfremdet. Es ist mühsam, sich zu orientieren, sich in den Brechungen zurechtzufinden, Teile der Welt zu erkennen.

Je näher man an die Tücher herantritt, umso mehr sieht man das Akkurate der Kreuzstiche, die Ordnung, auch die Länder und Kontinente, die dargestellt sind. Damit wird eine exakte Vermessung des Raumes vorgeführt denn Kreuze definieren präzise einen Ort im Raum. Der Charakter von Präzision und Geometrie wird auch durch die mehrfachen Spiegelungen hervorgehoben. Tritt man jedoch ein wenig zurück, scheinen ganz im Gegensatz dazu merkwürdige Wesen auf den Stoffen dargestellt zu sein: archaische Wesen, fremde Wesen, Wesen aus einer vergangenen Zeit. Will man noch ein wenig mehr zurücktreten, um sich einen Überblick zu verschaffen, so wird man zum Zentrum des Raumes. Das ist der Turm, der als Ort der Versammlung und Konzentration zugleich die Möglichkeit bietet, sich nach außen zu wenden, sich allen Richtungen zuzuwenden, ohne doch die Übersicht zu verlieren. Von hier aus kann alles verortet werden.

Warum in einem mittleren Abstand merkwürdige Wesen erscheinen, ist nicht aufzuklären. Die Kunst bietet solche überraschende Einblicke.Tatsächlich ist der mittlere Abstand unsere alltägliche Einstellung zur Welt.

Wir schauen in die Welt und wir werden vielfach angeschaut und verstehen nicht, was sich dahinter verbirgt. Wollen wir mehr verstehen, gehen wir näher heran, untersuchen und erforschen einzelne Phänomene. Wir sehen die Elemente, aus denen das Ganze besteht. Aber wir verlieren das Ganze wieder aus dem Blick und vor allem: wir verstehen uns selbst nicht mehr.

Also können wir den Abstand zur Welt wieder vergrößern und uns in den Turm des eigenen Ich zurückziehen. Hier können wir uns wieder finden, uns sammeln, zu Ruhe kommen und dann fragen:

Wer bin ich? Wer bin ich, der ich in der Welt stehe? So finden wir uns als geistige Wesen. Und so schauen wir wieder herunter auf das rein körperliche Urwesen, das uns so fremd erscheint, dass wir aber doch auch noch sind. Von weit herkommend trägt uns der Körper immer noch, er ist solide, der Erde nah, reagiert auf natürliche Weise, leitet uns durch seine Instinkte, wertet nicht, lässt alles so, wie es ist. Wenden wir uns von hier aus wieder der Welt zu, als dieses geistige Wesen, das doch seinen naturhaften Körper nicht verleugnen kann, dann wird klarer, was es mit der exakten Vermessung, der Präzision und der Geometrie auf sich hat: Das ist die Art und Weise, wie der Geist des Menschen sich der Welt bemächtigt. Dieser Geist jedoch ist in der Moderne nicht mehr der nach Sinn und Bedeutung fragende Geist, er ist vielmehr zu einem planenden, die Welt präzise vermessenden, naturwissenschaftlichen Geist geworden. Der moderne, naturwissenschaftliche Geist lässt die Dinge nicht mehr so wie sie sind, er berechnet sie und unterwirft sie gesetzhaften Erklärungen. So macht der Mensch sich die Welt zu seinen Zwecken verfügbar und stellt sie in seinen Dienst. Erst wenn wir uns von dieser Betrachtung wieder lösen und den Abstand etwas vergrößern, werden die archaischen Wesen sichtbar.Jedes Land, jede Region und jeder Kontinent scheint eine andere Seele, ein anderes Gesicht, einen anderen Charakter zu haben. Diese Vielfalt fremder Wesen und Kulturen sucht der naturwissenschaftlich orientierte Mensch seinen Gesetzen und Berechnungen zu unterwerfen und damit einzuebnen. So macht er sie berechenbar und beherrschbar und zähmt das ihn gefährdend Fremde. Aber diese Einebnung des Fremden hat seinen Preis: Die archaische Vielfalt, das Numinose und Geheimnisvolle, Poesie und Schönheit gehen verloren. Zurück bleibt nur das exakt Vermessbare, Erklärbare und Beherrschbare. Damit aber schneidet sich der Mensch von seinen eigentümlichen und tiefen menschlichen Möglichkeiten ab. Alle hier dargestellten Aspekte – der alles vermessende und berechnende naturwissenschaftliche Geist des Menschen, der Anblick der Welt als eine Vielfalt von Wesen und Kulturen im seinlassenden, ursprünglichen Betrachten und der Mensch mit seinem naturhaften, archaischen Körper – können eigens als solche erst erblickt und zusammengehalten werden im Rückzug und in der Rückbesinnung des Ich auf sich selbst.

Das Ich als Standort, das solchen Überblick gewährt, lässt sehen: Die verschiedenen Weisen, sich der Welt zu stellen, ihr zu begegnen, sind verschiedene Möglichkeiten, die das Ich bewusst einnehmen und wählen kann.

Nur dann verliert sich das Ich nicht in eine der Möglichkeiten oder verliert im verworrenen Anblick der Welt die Orientierung.

Und es wird auch klar, dass der Mensch gefährdet ist, wenn er sich einseitig auf einen Standpunkt begibt. Der Mensch, der die Welt einseitig in Naturwissenschaftlicher Auslegung betrachtet, verliert den Blick für das Fremde, das Numinose, das Schöne. Und in seinem grenzenlosen Verlangen, sich die Welt gefügig zu machen, beutet er sie aus, statt sie zu schonen. Der sich nur geistig verstehende Mensch dagegen wird in der Verleugnung seines naturhaften Körpers seine Bodenhaftung, seine Instinkte und die Weisheit seines von weit herkommenden Körpers verlieren.

Wer sich umgekehrt nur auf seinen Körper versteht, wird sich vielleicht instinkthaft orientieren können, aber für Sinn und Bedeutung keine Verständnis mehr haben. Wer sich ohne Bindung an das eigene Ich dem kulturell Fremden zuwendet, wird sich selbst verlieren und sich bedroht fühlen. Und wer sich schließlich von der Welt ganz abwendet und sich nur noch in sein eigenes Ich-Gehäuse zurückzieht, verliert die ganze Vielfalt der Welt und dreht sich nur noch um sich selbst. Der Turm im Zentrum des Raumes lässt so spürbar werden, dass die Möglichkeit, bei sich selbst immer wieder anzukommen, bei sich zu wohnen, uns erst in Stand setzt, in der Welt zu bestehen, der Welt zu begegnen, sich in die Welt hinein zu entwerfen.

Die verschiedenartigen und fremden Weltobjekte stehen nicht mehr beziehungslos zueinander, sie sind einheitlich bezogen auf das Ich als Zentrum der Selbst- und Weltauslegung. Aber diese Aufgabe, sich immer wieder aus seinem Zentrum heraus zu verstehen, ist schwer einzulösen, zumal die Welt den Menschen auf vielfache Weise bedrängt. Angesichts dieser existenziellen Herausforderung bleibt das Ich immer gefährdet. Diesen Anblick bietet auch der Turm, der in seiner Erhabenheit und Zentriertheit doch auch fragil erscheint.